Naoshima. Ich spaziere ans Ende der kleinen Bucht, zu Kusamas gelbem Kürbis, der von seinem leicht erhöhten Platz aus so friedlich wie keck aufs Meer schaut. Von unserem Wohnwagen aus haben wir ihn die ganze Zeit schon gesehen, jetzt will ich mal auf Tuchfühlung gehen.
Wie alle anderen – der Kürbis ist selten allein – bin auch ich gekommen, um ihn zu fotografieren.
Eine Frau spricht mich an, fröhlich klingt sie, freundlich, mittleres Lebensalter wie ich, eine hübsche, sympathische Frau, einen Rock trägt sie, die Sonnenbrille in die langen, hellen Haare gesteckt. Sie fragt mich, ob sie ein Foto von mir vor dem Kürbis machen soll, ich zögere. Would maybe funny, because I am wearing my polka dot dress, überlege ich. Right!, ruft sie, und: Oh, of course you need a picture! und nimmt mein Handy entgegen. Sie macht drei Fotos von mir im schwarzen Kleid mit weißen Punkten vor dem gelben Punkte-Kürbis, wie schon befürchtet, gibt das ein verkrampftes hässliches Bild ab, das ich so schrecklich finde, dass ich später alle drei Versuche lösche und darüber nachdenke, das Kleid nie mehr anzuziehen, überhaupt kein Kleid, und mich ganz konsequent einfach nicht mehr fotografieren zu lassen. Dann tauschen wir. Kann gut sein, dass das der Grund war, warum sie mich eigentlich angesprochen hat, weil sie ein Foto von sich vor dem Kürbis wollte.
Ich mache drei Fotos von ihr, sie sieht gut aus in ihrem Rock und ihr Lächeln ist auch nicht so ein verzerrtes Horror-Grinsen wie meins. Bestimmt hat sie Kinder, denke ich. Und vielleicht einen Ex-Mann. Nun reist sie allein durch die Welt, denn das tun sie, die Frauen im mittleren Lebensalter: Ihre Kinder sind aus dem Haus oder liegen beim Therapeuten auf der Couch und schimpfen über ihre Mutter, also sie, die Männer sind bei Jüngeren, mit neuen Jobs und neuen Herausforderungen beschäftigt und die nun allein stehenden Frauen, was für ein Wort, entwickeln ungeahnte Kräfte und denken sich, soll ich jetzt heulen und depressiv werden oder soll ich das ganze Geld von meinem Mann nehmen und mich der Kultur widmen und Reisen machen und eine nie gekannte Form der Zufriedenheit finden. Oder beides im Wechsel.
Wir sprechen kurz. I dont recognize your accent …? sagt sie. Das scheint die zur Zeit anerkannt korrekte, am wenigsten als offensive geltende Frage nach der Herkunft zu sein, das hab ich jetzt schon öfter gehört von Englisch sprachigen Reisenden. Sie erzählt, dass sie aus Neuseeland kommt oder dort zumindest schon lange lebt, ihre Eltern sind aus Australien. Ah, sage ich, interesting, und dass es mir so vorkommt, als seien viele Australier in Japan unterwegs? Sie wird ganz aufgeregt, wedelt protestierend mit ihren schlanken Händen, sie sei aus New Zealand!, sagt sie dreimal, New Zealand!, completely, really completely different country! So war das gar nicht gemeint, bin nur beim Stichwort Eltern/Australien dumm hängen geblieben. Ich sage ihr, dass ich das sehr genau weiß, dass das zwei very different countries sind, spätestens seit ich Flight of the Conchords gesehen habe. (Ach, mein Bildungsfernsehen). Ooouh! staunjubelt sie, you know Flight of the Conchords? Did you like it? (Das findet sie verwunderlich, dass ich das liken könnte, vielleicht weil ich aus Deutschland komme). I found it hilarious, sage ich. Und erkläre nochmal, dass ich seither sehr genau weiß, dass Australien und Neuseeland two very different countries sind. Ah!, jetzt fällt der Groschen und sie lacht. Wir reden kurz über Jermaine und wie hieß der andere, nur Murray fällt uns noch ein, was aber glaub ich der Agent und nicht der buddy war. Ich erzähle, dass die beiden, Jermaine und der buddy, als ich damals in New York war, sogar eine Show auf dem Broadway hatten.
Dann verabschieden wir uns. Sie bleibt noch ein bisschen beim Kürbis. Der Kürbis, der das alles mitgehört hat. Ich kann ihn ja noch am nächsten Tag streicheln, weil ich praktisch neben ihm wohne.
Als wir zwei Tage später Richtung Fährhafen zurück fahren, zwischen Koffer und Rucksack im Bus eingequetscht wie auf der Hinfahrt, steigt sie an einer der Stationen zu. Sie spricht fröhlich mit zwei Frauen, ach, denke ich, doch mit Freundinnen unterwegs! Doch später am Hafen sehe ich sie ohne die Frauen, die längst ihrer Wege sind und ich höre, wie sie ein Ticket nach Taeshima bucht. Ihre Reise geht allein weiter.
Warum fand ich allein essende trinkende reisende Frauen früher so wahnsinnig cool und stark und heute finde ich sie so wahnsinnig … einsam? Warum ist etwas, das mir unglaublich emanzipiert, um mal dieses alte Wort aus alten Zeiten zu benutzen, unabhängig und selbständig vorkam zu etwas verkommen, was auf mich wie ein tragisches Schicksal wirkt. Bin das nur ich und mein projiziertes Selbstbild oder bin das ich im Namen einer misogynen Gesellschaft, die die älter werdende, von allen verlassene, nicht mehr begehrbare Frau nur als unglückliche begreifen kann? Deren Beteuerungen, es sein eine große Zeit der Befreiung niemand ernst nehmen will.
Ich stelle mir vor, dass sie ein schönes Haus hat und Freunde, die sie auf ihre Terrasse einlädt. Und einen Hund. (So kenn ich das aus australischen Serien). Ich bin ein bisschen traurig, weil sie eine dieser Frauen ist, die mir das Gefühl geben, nicht erwachsen geworden zu sein. Wir könnten nicht befreundet sein. Aber als ich sie so alleine weiter reisen sehe, bin ich ein bisschen versöhnt. Noch so ne Frau, die einfach versucht, irgendwie klar zu kommen. Ihre professionelle, leicht überhebliche Freundlichkeit, nach meiner Erfahrung typisch für soziale Interaktion mit englischen Muttersprachlern, ist eben auch nur: professionell und hilft durchs Leben.
Vielleicht sollte ich auch mal nach Neuseeland fahren. Wenn da alle so nett sind. Aber der Flug ist ja noch länger.