Ich sitze auf einen Kaffee im Fenster bei Balzac Coffee. Neben mir klettert eine junge Frau auf den Barhocker, Anfang 20, schätze ich. Höchstens, vielleicht auch erst 18. Sie ist zierlich, sehr blond und von oben bis unten in Berry-Tönen gekleidet: Hose, Turnschuhe, Pulli. Ihre langen Haare trägt sie offen, das Deckhaar in einem Knoten auf dem Kopf, wie man das gerade häufig sieht. Ihr Gesicht ist hübsch, weich und rund, ein bisschen baby face-mäßig. Sie telefoniert. Es ist voll, Mittagszeit, wir sitzen ziemlich dicht. Ich verstehe jedes Wort.
Sie kommt gerade vom Arzt. Hat sich testen lassen. Sie fände es besser, wenn es wie in den USA wäre, da gibt es zwei Institute, die von den Produzenten anerkannt werden und nicht wie hier, wo jeder Produzent einen anderen Test sehen will, in Budapest gilt was anderes als hier. Sie hat der und der schon Bescheid gesagt, dass sie sich auch testen lässt und dann auch den und den anruft. Das muss schon sein. Chlamydien, Syphilis, Tripper, rattere ich im Kopf durch, das Stichwort Hepatitis fällt, aber ich weiß nicht, ob sie deshalb heute beim Arzt war. Aber mal ehrlich, sagt sie, und wenn man irgendwann HIV kriegt, davon stirbt man heute auch nicht mehr. Dann schreib ich halt ein Buch, sagt sie: über Geschlechtskrankheiten in der Pornobranche. Sie lacht. (Ich bin mal wieder sauertöpfisch davon beeindruckt, wer es alles außer mir schafft, ein Buch zu schreiben.) Es ist besser mit Leuten zu drehen, die sehr viel drehen. Die sind dann ja ständig beim Test. Aber ganz ehrlich, man kann mich ja auch heute anstecken, dann weiß man das bei HIV aber trotzdem erst in acht Wochen oder so. (Blödsinn, denke ich, das geht doch viel schneller mit dem Ergebnis. Ohweia, vielleicht ist sie doch dööfer als ich dachte. Achso, sie meint, weil sie sich alle zwei Monate testen lässt. Ich bin die Doofe.)
Mit irgendeiner Kollegin gibt es Ärger, die ist bitchy, bestimmt, weil sie nicht so oft gebucht wird. Naja, vielleicht gibt sich das, wenn sie mal ihr girlfriend war. Der Produzent hat gefragt, ob sie schon naked attraction gemacht hat oder irgendwelche Tabuthemen hat. Also kein Problem, Naked attraction hat sie schon gemacht und Tabuthemen hat sie keine. – Ich bin irritiert, ist Naked Attraction nicht diese lahme Sendung in der Leute sich nackt daten? Vielleicht hab ichs falsch verstanden. Vielleicht verstehe ich überhaupt alles falsch. Auch den Namen eines Kollegen nennt sie, Ricky Jason, klingt ja erstmal glaubwürdig, aber als ich das später google, finde ich in der Kombination nichts. Rickys gibt’s aber auch eher bei gay porn. Vielleicht ist sie ja schwul oder ein Mann und ich hab auch das nicht kapiert. Haha.
Und die Liebe? Der Arzt ist süß, bei dem sie gerade war. Aber zu dem kommt sie ja immer nur wegen ihren Geschlechtskrankheiten, das wird also auch nichts mehr. Sie lacht.
Wegen der Steuer: Bis dahin hat sie dann eine Adresse in Panama. Von da aus überweist sie ja jetzt schon die Krankenkassenbeiträge. Und der Steuerberater weiß dann ja, wie das geht, dass sie hier keine Steuer bezahlen muss. Dann geht es noch um Mama und was die zu all den praktischen Orga-Dingen so sagt. Die weiß also Bescheid. Ist ja auch das wichtigste, dass man seine Tochter bei ihren Träumen unterstützt.
Ich kann nicht behaupten, dass ich sie mag oder verstehe, aber blöde ist sie nicht, jedenfalls nicht komplett. Sie ist fröhlich, bester Laune und stolz, weil alles so gut läuft. Eine ehrgeizige junge Frau, bereit, ihren Weg zu gehen. Germanys Next Topmodel auf der etwas expliziteren Ebene. Sie hatte keine Lust Bürokauffrau zu werden, wie ihre Mitschülerinnen, sie wollte was Besonderes sein, sie wollte ein aufregendes, ein künstlerisches Leben, sie wollte ins Filmbusiness. I respect that. A girl with a dream. Who am I to judge. Well. Do I respect that? Am I not judging? To be honest: I do. Wär`s mir lieber, sie wäre Bürokauffrau? Und überhaupt: Was geht’s mich an. Jeder kann machen was er will. Ihre Entscheidung. Selbst/bewusst gewählt. Stimmt das? Wählt irgendjemand irgendwas? Wenn ja, warum dann das? Es kümmert mich, weil sie eine Frau ist. Ich will, dass sie versucht, mit was anderem zu punkten als ihrem body sex girl -Ding. Würde es mich auch kümmern, wenn sie ein junger Mann wäre? Ja. Aber bei ihr als Frau kommt noch was dazu. Work your brain, sister. Sonst wird hier nie was anders. Aber vielleicht wird hier ja auch einfach nie was anders. Dann wieder: Eine selbstbewusste, zu ihrer Sexualität und ihrem Beruf stehende Frau. Da kann man doch aus feministischer Sicht nichts sagen. Ist ein Pornodreh Sexualität? Was labert sie großspurig von Panama. Das nervt mich am meisten. Überhaupt dieses big player raushängen lassen, das verstärkt in mir den Eindruck, sie sei Opfer irgendeines Rip-off. Und mal sehen, was sie sagt, wenn sie dann tatsächlich HIV hat, immer noch: daran stirbt man ja nicht? Vielleicht schreibt sie dann in ihrem Buch, dass sie, als sie noch jung und schön war, und voller Hoffnung auf eine große Karriere, und noch kein alter, verbitterter, gebrochener, kranker Ex-Pornostar, in einem Cafe saß, und eine Frau neben ihr saß, von der klar war, dass sie jedes Wort hört, sie aber so getan hat, als wär sie Luft.