Dezember 2017 – Au Supermarché

Im französischen Supermarkt im Untergeschoss bei Galerie Lafayette.

Ich stehe versonnen vor den Kühlschränken und schaue mir leckere Sachen an. Wie immer hier muss ich an Houellebecq denken und sein letztes Buch (Unterwerfung), in dem seine Hauptfigur Blinis mit Tarama isst. Das gibt’s hier nämlich.

Ein Mitarbeiter mit Schürze spricht mich von der Seite an: Entschuldigung, sprechen Sie französisch? Neben ihm steht ein Junge, etwa acht. Offenbar hat ihn auf Französisch nach etwas gefragt. Nein, nicht wirklich, sage ich. Der Junge steht reaktionslos, wartet ab, was die zwei Erwachsenen jetzt unternehmen. Ich krame in meinem Hirn, irgendwo muss noch ein bisschen Französisch drin sein. Quest-ce que tu cherche? frage ich ihn. Eine grüne Flasche, sagt er. Akzentfrei. Na, das klappt doch prima hier mit uns auf Deutsch, sage ich, und lache. Der Mitarbeiter und ich gucken uns leise irritiert an, warum hat er nicht gleich Deutsch gesprochen? Das Gesicht des Jungen bleibt weiter seltsam reaktionslos. Wo sind denn bloß die Eltern? In ihrer verglasten Penthouse-Wohnung, schätze ich, der Junge sieht nach Geld aus, angezogen wie ein kleiner Erwachsener, man hat ihn mal rasch ins Galerie Lafayette geschickt als wärs der Späti um die Ecke, aber welche Eltern in dieser Preisklasse, im Allgemeinen eher als Helikopter-Eltern bekannt, schicken ihren Achtjährigen alleine zum Einkaufen? Eine grüne Flasche, sage ich. Und was ist da drin, Limonade, oder Wasser? Ich und der Schürzenmitarbeiter gucken auf den Jungen hinunter, der überlegt. So richtig schnell im Kopf kommt er mir nicht vor.

Ich deute auf eine kleine Flasche Perrier in der unteren Etage des Kühlschranks links von uns. Guck mal, meinst du so eine Flasche?, frage ich. Mit Wasser, das piekt, sagt er, ohne meinem Zeigefinger gefolgt zu sein, und als habe er lange und konzentriert darüber gebrütet. Wasser, das piekt, sage ich, sehr gut, wir kommen der Sache näher. Ich deute erneut auf die kleinen Flaschen. Sieht die grüne Flasche ungefähr so aus? Diesmal schaut er hin. Ja, sagt er, und nickt. Aber in groß. Ich und die Schürze sind erleichtert. Die Schürze geht, mit einem klaren Suchauftrag. Ich und der Junge bleiben vor dem Kühlschrank stehen. Ich mag ihn noch nicht alleine lassen. Ich habe eine Waffe dabei, sagt er zu mir. Ah, ja? sage ich.  Er nickt. Ein Schießgewehr. Soll ich es dir zeigen? Nein, jetzt gerade nicht, sage ich. Es ist sehr groß, sagt er, und schaut mich an.

Du lieber Himmel.

Jungs, denke ich. Und ihr ewiges Missverständnis über Waffen und Frauen. Franzosen, denke ich. Und sehe es plötzlich: Der Junge sieht aus wie eine Miniaturausgabe von Houellebecq. Vor mir steht Young Michel!

Die Schürze ist noch immer nicht zurück. Du könntest einfach zwei davon nehmen, schlage ich vor, das ist ungefähr wie eine große. Jetzt kommt Bewegung in die Sache. Er nickt, tritt vor, nimmt zwei kleine Flaschen aus dem Kühlschrank, die Schürze kehrt bedauernd zurück: Nein, große gibt es nicht, der Junge geht Richtung Kasse, und ist verschwunden.

Ich sehe ihm nach und bin ein bisschen traurig, weil er mich schon vergessen hat. Ich wünsche ihm alles erdenklich Gute. Möge das Leben gnädig mit dir sein, mein Junge.

Ich kaufe noch einen winzig kleinen, sehr leckeren, französischen Importkuchen, dann lasse ich Wärme und Licht des Kaufhauses hinter mir und kehre zurück in die kalte Luft der dunkel gewordenen Stadt.

Juni 2016 – Junge in der Ubahn