Juli 2017 – Geht gar nicht. Oder?

Ich sitze in der U5. Eine junge Frau kommt rein – ich schätze Roma – eine alte, verknüddelte Motz in der einen Hand, einen leeren Pappbecher in der anderen. Sie beginnt ihre Tour durch den locker gefüllten Wagen, hält jedem der Mitfahrenden murmelnd den Becher unter die Nase. Sie kommt bei zwei Frauen vorbei, beide so Ende zwanzig/Anfang dreißig, leicht angeprollt, groß, blond, lange Haare – vor allem die eine. Als die Frau ihr den Becher hinhält, guckt sie provozierend dumm hinein, als wüsste sie nicht, was der bedeutet, dann ihr ins Gesicht, dazu macht sie eine Handbewegung, die sagt: Gib du mir was, Alte. Sie wiederholt das, sagt: „Fh, nee“, zeigt mit dem Zeigefinger der Frau ins Gesicht, macht wieder die schaufelnde Handbewegung: Gib du mir doch was. Der jungen Frau fällt das Gesicht runter, der Freundin ist es leicht unangenehm, aber nur leicht. Ohne die restlichen Fahrgäste weiter durchzumachen geht die junge Frau mit ihrem Becher zur Tür, sie ist verstört, wütend. Als die Tür bei der nächsten Station aufgeht, schickt sie einen schnellen, lautlosen Fluch in Richtung der Blonden, dann ist sie weg. Die Blonde hat nach einem: „Na, ist doch wahr“, einfach mit der Freundin weitergeredet.

Mein erster Impuls: Geht gar nicht, blöde Nazi-Schlampe – sicher auch durch U5 und prollig-Kontext mit angetriggert. Ich bin kurz davor, was zu sagen, ich finde es demütigend, was sie da macht, finde, sie führt die Frau vor, finde die Handbewegung herabwürdigend, ja rassistisch – sie hat ja nicht mit ihr geredet, sondern ist gleich mal von „die versteht eh kein Deutsch“ ausgegangen, warum eigentlich, wegen des Gemurmels. Aber ich gebe zu: Ich bin auch überrascht, erstaunt, fasziniert.

Ich kenne die Zumutungen der täglichen U-Bahn-Fahrt, die Attacken der Armut, der Krankheit, der Craziness. Ich hab sie voll drauf, die Routine des Abnickens, Wegnickens, höflich Bleibens, obwohl schon der Zehnte sich mir ins Gesicht schiebt. Ich setze mich dem aus. Ich lasse mich beschimpfen, volllabern, vollstinken. Ich bin dazu bereit, immer wieder aufs Neue, ja, ich erwarte von mir, mich dem auszusetzen, mich damit offen und ehrlich zu konfrontieren, nicht die Augen zu verschließen vor den Zuständen dieser Welt. Ich bin dazu bereit, mich jedesmal für einen Moment unangenehm zu fühlen, ein schlechtes Gewissen zu haben. Es kommt mir aufrichtiger vor, hier zu leben, inmitten dieser Zumutungen, als in der Kleinstadt. Es kommt mir anständig vor, mich dem auszusetzen. Mich nicht in einer Blase zu befinden, sondern in der „echten Welt“. Ist das BLÖDSINNIG? „Echte Welt“ ist schließlich global betrachtet äußerst relativ. MASOCHISTISCH? Man könnte sich für sich selbst einen anstrengungsfreieren Alltag wünschen, wär jetzt auch nicht total verboten (macht man ja auch mit Lärm, Hundekot und Luftverschmutzung, alles menschengemacht). Womöglich FRAGWÜRDIG? Man geriert sich als Gutmensch, der doch eigentlich nur sein Umgangslevel damit gefunden hat, auf dem sich nichts verändert, man nichts durchbricht, sich nur die Situation erträglich macht.

Eine Frau kommt rein und will Geld. Das ist ein performativer Akt. Den wir alle kennen. Die Signale sind klar, auch die Armut ist ein Business. Ich bin Teil dieses Aktes. Ich gebe etwas. Oder ich gebe nichts. Das ändert jeweils an der Funktionsweise des Aktes nichts, beides ist Teil seiner Aufführung. Dem Akt eingeschrieben ist die Annahme, dass die Person, die um Geld bittet, arm ist, und die Person, die angesprochen wird, reich oder zumindest im Vergleich mit der um Geld bittenden Person so reich, dass es ihr nicht weh tut, ein paar Münzen zu entbehren, während die bittende Person das Geld zum Überleben braucht. Der Akt wird – wie viele performative Akte – an mich herangetragen. Ich kann ihn mir nicht aussuchen. Ich werde nicht gefragt, ob ich Teil seiner Aufführung sein möchte oder nicht, ich bin es einfach. Die Person, die um Geld bittet, wird aber auch nicht wirklich gefragt, ihr bleibt nichts anderes übrig als den Akt aufzuführen, so zumindest die Annahme. (Daher auch mein Gefühl, sie führt die junge Frau vor: Was soll sie anderes machen, ist für sie doch eh schon demütigend genug, siehe Grundannahme)

Die Reaktion der Frau in der U-Bahn, könnte man als Kommunikationsguerilla bezeichnen (auch wenn die sich im Allgemeinen für andere Kontexte interessiert). Sie hat für einen Moment die Spielregeln nicht befolgt. Sie hat sich neben das Spielfeld gestellt. Sie hat sich verweigert. Sie hat eine festgelegte Struktur, eine Wiederaufführung des Immergleichen, einen institutionalisierten Aktes hinterfragt. Sie hat die Situation umgedreht, die grundlegende Annahme in Frage gestellt. Was, wenn ich gar nicht diejenige bin, die mehr hat als du. Woran machst du das fest, an welchem Signal. Armut ist heute oft unsichtbar. Primark Klamotten kann jeder. Nur weil ich keinen Becher in der Hand habe. In die Hand nehme, auch das ist eine Entscheidung. Vielleicht krieg ich auch Hartz IV. Vielleicht mach ich drei Jobs und hab nicht genug. Was weißt du schon von mir. Mach nicht was aus mir, ohne mich zu fragen. Ich lasse mir nicht deine Aufführung aufdrücken. Du mutest mir etwas zu, das ist dein Recht. Ich grenze mich ab, das ist mein Recht. Rechne nicht mit mir. Rechne nicht mit dem uns verordneten Spiel. Bleib wach.

Unterm Strich, das merkt man schon: Eher garantiert so AfD-Wähler. Hatten die, – ah, nein, die NPD! – nicht mal dieses schöne Plakat: Geld für Oma nicht für Roma. Das Soziale und das Rassistische geht bei denen ja schon immer pervertiert problemlos zusammen.

Trotzdem, alles in allem, zumindest: Anregende Situation.