Ich steige am Görlitzer Bahnhof aus. Oben auf dem Gleis spricht mich der erste black guy an, Gemurmel, in gebrochenen Deutsch, ob ich Drogen will, auf der ersten Treppe nach unten der nächste mit dem gleichen Spruch, auf der zweiten Treppe der übernächste, unten, ebenerdig, dann nochmal einer. Nein danke, sage ich beim ersten, beim zweiten schüttele ich den Kopf, beim dritten sage ich gar nichts mehr, den vierten schau ich nicht mal mehr an. Ein paar Meter weiter vorne gibt es Streit, zwei von den Jungs schreien sich an. Um die Kurve des Gebäudes, auf dem Weg zur Ampel, sehe ich an der Wand Schlafsäcke, eine Matratze auf dem Boden, das bisschen Hab und Gut drum herum, den Müll, der bleibt, wenn der Mensch etwas isst.
Die Handhabe der Berliner, oder genauer, der Kreuzberger Politik, ist in solchen Situationen Toleranz. Was sollen die Leute machen. Sie sind ausgegrenzt, leben in prekären Verhältnissen, stehen unter Druck, müssen mit irgendwas Geld verdienen, müssen irgendwo schlafen. Sagen wir eben einfach höflich Nein, danke, wenn sie uns ansprechen, oder auch Ja, danke, und kaufen ihnen ein bisschen was ab. Lassen wir sie. Ist doch okay. Geben wir ihnen ein bisschen was. Nehmen wir sie mit, wir haben doch genug.
Was, wenn Toleranz hier nichts anderes ist als Indifferenz. Als Gleichgültigkeit, gegenüber dem Elend. Denn das ist es, was ich hier sehe: Elend. Was, wenn Toleranz hier einfach nur zynisch, feige und bequem ist? An diesem Ort bilden sich gerade höchstwahrscheinlich brutale, mafiöse Strukturen heraus, zwischen den Verkäufern von oben (Gleis) und denen von unten (Erdgeschoss), Strukturen mit eigenen ausbeuterischen Regeln, Gesetzen und Strafen, die wir nicht kennen und durchschauen, auf die wir keinen Zugriff haben. Diese Männer schlafen auf der Straße, leben im Dreck und im Lärm, essen auf Augenhöhe mit den Berliner Ratten, verkaufen und konsumieren schlechte Drogen, wissen nicht, wie es weitergehen soll, können nicht vor und nicht zurück, und was uns dazu einfällt, ist, tolerant zu sein. Aber hier geht es nicht um eine Lifestyle-Entscheidung, um sexuelle Orientierung oder kulturelle Vielfalt.
Is mir egal – so hat die BVG sich und die Berliner Toleranz in einem ihrer Werbespots gefeiert. Is mir egal heißt aber auch, du bist mir egal. Du kannst machen was du willst, es kann dir gehen, wie es will, das geht mich nichts an.
Was, wenn sich diese jungen Männer im Stich gelassen fühlen, eben weil man sie toleriert? Was, wenn sie sich jemanden wünschen, der vorbeikommt, und sagt: Das, was ihr hier macht, geht nicht. Es ist nicht erlaubt. Es ist nicht erlaubt, am U-Bahnhof Drogen zu verchecken, sich um unsichtbare Reviere zu streiten, an die Wand des Gebäudes zu pinkeln, Müll liegen zu lassen, hier zu schlafen und Leute zu belästigen. Ist das ausgrenzend, ist das intolerant? Oder ist es das Gegenteil? Erkennt es an, dass hier Menschen in Umständen leben, die menschenunwürdig sind? Erkennt es vielleicht auch an, dass Menschen im Rahmen ihrer Umstände Entscheidungen treffen, für die sie verantwortlich sind? Für die Umstände sind wir zuständig. Zum Beispiel mit einer fehlenden regulierten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik, mit einer Politik, die, nach Jahrzehnten der Ignoranz, in einer Alarmsituation plötzlich endlich sagt: Refugees welcome und die Migranten dann in Aufnahmeeinrichtungen und, wie gehabt, ohne Arbeitserlaubnis im Duldungsstatus verhungern lässt.
Bei diesen Jungs am Bahnhof geht es nicht um eine Lifestyle-Entscheidung, um sexuelle Orientierung oder kulturelle Vielfalt.
Regeln legen fest, was richtig ist und was falsch. Auweia. Man muss sie diskutieren, sich an sie halten, sie durchsetzen. Das ist alles äußerst unangenehm, uncool und aufwändig, aber Regeln überlassen das soziale Feld und den beteiligten Menschen darin nicht einfach sich selbst.