Mai 2025 – Im Zug

Im ICE nach Berlin. Eine Durchsage des Zugführers: 

Der Zug muss leider über Hannover umgeleitet werden. Grund ist ein Suizidversuch auf der Strecke. 

Ein Fahrgast laut irgendwo weiter vorne im Abteil: 

Einfach drüber fahren! 

1 Dass ein voll besetzter ICE als Telegram Kanal für ungefiltert rausgehauene Hassposts herhalten muss, dass ein vor Verachtung und Würdelosigkeit strotzendes Statement nicht mehr von irgendeinem hugo_21 auf der Toilette getippt werden muss, sondern es lautstark am helllichten Tag in aller Öffentlichkeit geäußert wird, könnte mich und alle anderen schockieren, aber dazu sind wie alle schon zu abgebrüht. Das ist das eigentlich Schockierende.

2 Warum formuliert der Zugchef das so explizit? In der DBApp steht: Wegen eines Notfalleinsatzes, das scheint mir angemessen. Warum scheint mir aus der faktischen Formulierung, die er wählt, dennoch sein Ärger zu klingen. So, jetzt waren wir mal so schön pünktlich – denn in diesem Kontext hat der Suizid für ihn und die Bahn natürlich Bedeutung als Topos mit dem man regelmäßig umgehen, Protokolle abarbeiten muss – und nun wieder so einer. Hat seine explizite Formulierung, den Mann mit dem mündlich vorgetragenen Hasspost ermutigt? Geht es irgendjemand was an, ob ein Herzinfarkt, Schlaganfall oder Suizidversuch der Grund für den Notfalleinsatz ist? Ist es eine Indiskretion, das zu erwähnen? Fakt ist doch, jemand braucht Hilfe. Und wenn die Hilfe zu spät kommt, auch.

3 Hat der Suizid eines Menschen an Bedeutung, an Dramatik verloren? Der Aufwand, der auf institutioneller Ebene betrieben wird, um den Suizid zu verhindern, und ihn, wenn er passiert, zu be- arbeiten und zu verarbeiten, scheint mir hoch. Wieso hat man den Eindruck, die Institution hält hier einmal mehr etwas aufrecht, was einmal mühsam erarbeiteter Werte-Konsens war. Für die meisten scheint der Suizid vor allem ein narzisstischer, egoistischer Akt zu sein. Der Abläufe stört und Menschen verstört. Warum soll man den Suizidalen retten, wenn er doch gar nicht gerettet werden will. Ist doch eine freie Entscheidung. Außerdem, andere, also wir hier, stellen uns doch auch nicht so an, halten die ganze Scheiße aus, zum Beispiel die ewigen Bahnverspätungen, aber irgendeiner muss sich ja immer wichtig machen.

4 Hat der begleitete, freiwillige, sozusagen saubere Suizid, dem regulären seine Dramatik genommen, der deshalb jetzt noch eher als Ärgernis, Unverschämtheit, Rücksichtslosigkeit wahrgenommen wird?