Quer durch Hiroshima mit der Tram bis zum Hafen. Auf die Fähre, die schon wieder anlegt, kaum hat man sich an Deck begeben, um aufs Meer zu schauen. Gleich wenn man aussteigt und die belebte Promenade betritt, sieht man sie: Rehe. Verblüffend, ihr Anblick. Sie bewegen sich selbstverständlich unter den Passanten, kommen ihnen nah, und sind dennoch mit dieser merkwürdigen Abstands-Aura ausgestattet, wie jedes wilde Tier. Ich mag sie nicht, sie machen mir Angst. Ihre Forschheit, ihr Drängen. Ihre Unberechenbarkeit. Ich mag nicht, dass die Leute sie füttern und fotografieren. Doch auch ich werde sie fotografieren.
Wie Profis posieren die Rehe, die hier heimisch sind, vor diesen Rechtecken, die man ihnen vor die Nase hält, sie scheinen Posen einzunehmen, den Hals noch etwas eleganter zu legen. Offiziell soll man sie nicht füttern. Im Gegensatz zur sonstigen Hinweis-Wut gibt es hierzu aber nur wenige, versteckte Schilder. Der Reiseführer hatte die Rehe für Nara angekündigt, weswegen ich gar keine Lust hatte, dorthin zu fahren. Nun sind sie auch hier.
Als ich später eines am Strand sehe, bin ich zunächst beruhigt. Vielleicht weil der Strand, trotz Spaziergängern, Hafenpanorama im Hintergrund, wie ein natürlicheres Habitat wirkt. Das Reh frisst Seegras, wenigstens irgendwas, was nicht aus Tüten oder Taschen stammt. Ich fotografiere das Reh. In diesem Moment fällt mir eine Fotografie von Wolfgang Tillmanns ein und ich bin geschockt. Tillmanns Foto (es heißt Deer, ich recherchiere es später) geht so:
Ein Hirsch, schlank und schmal, nicht so gewaltig wie die Hirsche, die es in unseren Wäldern gibt, und ein Mann – Tillmanns selbst? – stehen auf einem ansonsten leeren Strand einander gegenüber und schauen sich an. Der Mann hat die Hände ausgestreckt, gespreizt, ein bisschen als wolle er das Geweih des Hirsches nachbilden. Die beiden scheinen zu kommunizieren. Ein magischer, rarer, wunderschöner Moment des Kontaktes, verletzlich und mutig zugleich. Der Mann ist barfuß, die Hosenbeine sind hochgekrempelt, neben ihm steht ein Rucksack am Boden. Weit im Hintergrund sind links ein paar Häuser zu sehen, undefinierbar, ich jedenfalls habe ihnen nie Beachtung geschenkt. Ich habe diese Fotografie immer geliebt. Doch in diesem Augenblick wird mir klar, dass das Foto wahrscheinlich hier oder in Nara entstanden ist. Mir wird klar, dass ich es immer falsch gelesen habe, falls es so etwas gibt. Der Moment ist viel weniger magisch als ich dachte, weniger witzig auch. Denn jeder hier geht in Kontakt mit den Tieren, jeder hier hat einen Fotoapparat, um diesen Moment festzuhalten. Das Foto bekommt plötzlich einen Shift hin zu einer ganz anderen Bedeutung, plötzlich ist seine Erzählung eine andere. Es ist ein Foto über Tourismus.
Ich fühle mich betrogen und beschämt zugleich.