Sommer. Nicht heiß, aber warm. Ich bin unterwegs, durch die Straßen dieser Stadt. Es beginnt zu regnen. Nicht so stark, dass ich nicht bereit wäre, nicht sogar Lust hätte, mich dem auszusetzen, aber doch genug, dass ich es nach Hause schaffen will, bevor es schlimmer wird. Ich will nicht, dass meine Turnschuhe nass werden, sie halten nicht lange durch, Textil.
So etwas beschäftigt mich.
Schnellen Schrittes also gehe ich die Straße entlang, es ist nicht weit bis nach Hause. Ich komme an einem Eckhaus vorbei, einem Altbau, vor dem traditionell ein Regal steht. Man kann dort Sachen ablegen, die man nicht mehr braucht, zum Mitnehmen für andere. Auch ich habe dort schon aussortierten Kram hingebracht, Kleidung, Bücher, Geschirr.
Ich höre jemanden sprechen. Die Stimme eines Mannes dringt an mein Ohr, melodisch, fein. Doch auf der Straße ist niemand zu sehen. Die Sprache klingt gewählt, wie getextet, jedoch lebendig. Nur zwei Schritte weiter die Wand entlang und ich entdecke ihn: Im Hauseingang sitzt er, auf den schmalen Stufen zur Haustür. Er ist etwa dreißig. Hinter ihm liegt sein Hab und Gut in zwei Taschen, offenbar ist er obdachlos, hat hier Unterschlupf vor dem Regen gesucht. Die Mauern des Hauseingangs und die hohe Decke umrahmen ihn, machen ihn für den Augenblick, an dem ich an ihm vorbeigehe, zum Bild: Porträt, Hochkant. Auf seinen Knien liegt ein Buch, dort, auf den aufgeschlagenen Seiten, ruht sein Blick, liegt seine ganze Konzentration.
Er liest vor.
Das Buch: gebunden, ohne Einband, es wirkt alt. Er muss es aus dem Mitnehm-Regal genommen haben. Er liest gut. Der Text wirkt solide, literarisch. Er füllt den Raum damit, die Mauern geben seiner Stimme support, seinem Vortrag, den er hält,
in den Regen hinein, wie in ein geöffnetes Fenster.
Als ich an ihm vorbei bin – nur anderthalb Schritte dauert der Moment – verklingt seine Stimme in der Sommerluft so rasch wie sie zu mir gekommen ist.