Juli 2024 – Gedanke

Ich lese mal wieder Eribon. In seinem Buch „Eine Arbeiterin“ begegnet mir seine Beobachtung, dass es die Frauen sind, die das Wissen über die Familie haben, dass sie es sind, die die Familiengeschichten weitergeben, sie wieder und wieder erzählen, die detailliert über Verwandtschaftsverhältnisse sprechen könnten, darüber, wer mit wem welchen Grades verwandet ist, wer wen geheiratet und wie viele Kinder bekommen hat. 

Das kommt mir bekannt vor. Auch meine Mutter – keine Arbeiterin – hat es geliebt, diese Geschichten zu erzählen. Und sie zu hören, zumindest habe ich das immer mit der Frauenwelt zusammen gebracht, in der sie aufgewachsen ist und in der sie sich wohlgefühlt hat, in der sie in der Küche mit Mutter und Großmutter und den beiden Schwestern gelebt und getratscht hat, wo gekichert und geheimnisvolle Andeutungen gemacht und tragisch der Kopf geschüttelt und geseufzt wurde. So kenne ich es von ihr. 

Die Stammbaum-Erstellung hingegen ist etwas, dem sich, so mein Eindruck, die Männer widmen, gerne im späteren Lebensalter, Bücher darüber lesen, Akten und Standesamteinträge recherchieren, nachforschen, wer wann wohin gezogen ist und wer auf welchem Friedhof liegt. 

Ich frage mich, ob darin nicht der Versuch einer Aufwertung der eigenen Herkunft, der Familie liegt. Wird man nicht praktisch zum Adelsgeschlecht, zur Dynastie, wenn man einen Stammbaum vorweisen, sich genüsslich die Namen auf der Zunge zergehen lassen kann? Während die Familienerzählung der Mutter lebendige Geschichten aufruft, und versucht, den lauschenden, meist nur mäßig interessierten Kinder einzubleuen, welche Großcousine einen Arzt geheiratet hat und später von ihm mit drei Kindern sitzen gelassen wurde, interessiert sich die Stammbaumforschung des Mannes für die Mechanik der Familiengeschichte, für Orte, Namen und Berufe. 

Eribons Gedanke, dass die Alten und Pflegebedürftigen sich selbst nicht mehr als Gemeinschaft definieren können, um ihre Rechte zu vertreten. Wer kann ihr Fürsprecher sein, wenn sie nicht mehr selbst dazu in der Lage sind zu sprechen?

Die Thematisierung des Alters geschieht selten aus der Position des alten Menschen heraus, eher aus der Perspektive der Kinder, die das Altern der Eltern verarbeiten. Viele Bücher gibt es dazu. Das eigene Altern, ein Prozess, der doch meist lange vor dem Altern der Eltern beginnt, ist kein Thema. 

Für mich schon. Finde ich.