Ich lese Judith Hermann,
alles fließt, die Dinge beginnen zu tanzen
vor meinen Augen
die Menschen und ihre Bezüge.
An einer Stelle erzählt sie, wie sie / ihre Protagonistin das Tagebuch ihrer verstorbenen Mutter liest.
Ich habe Angst,
steht auf einer Seite. Sie schlägt das Heft zu, als habe sie sich verbrannt.
Das ist toll. Aus verschiedenen Gründen.
Mich bringt es zu zwei Fragen.
Wer wird sich je so für mich interessieren, dass er liest, was ich geschrieben habe. Der bereit ist auszuhalten, wer ich war, der mich so mag (liebt, etwas anderes wird nicht reichen), dass er das Interesse, das Begehren, den Mut aufbringt, mir zu folgen, durch meine Gedanken, meine Dummheit, meinen Irrsinn, meine Eitelkeit. Und warum ist das wichtig?
Zum anderen denke ich: Was hätte auf der Tagebuchseite meiner Mutter gestanden? Ich weiß es nicht. Das erste, was mir in den Sinn kommt, ist ein Tagesablauf, vielleicht die Beschreibung eines Familienfestes, im Grunde ohne Emotion erzählt. Das löst zum einen das übliche abfällige, verächtliche Gefühl aus, ich finde sie flach, passiv, brav, feige, einfältig,
und dennoch rührt sie mich.
Hinter der Abfälligkeit liegt die Sehnsucht.
Zum anderen aber auch wird die Gewissheit spürbar, dass ich sie nicht kenne, nicht gekannt habe und niemals kennen werde. Habe ich mich nicht genug für sie als Mensch interessiert. Sicher. Sie hat sich mir nicht als Mensch offenbart. Ganz sicher. Oder hat sie es versucht und ich habe es abgelehnt? Weil sie sich nicht für mich interessiert hat. Habe ich ihr eine Chance gegeben dazu? Immer hab ich sie geschont vor mir, aus Angst. Davor, dass sie noch fremder wird, noch blasser, dass sie mich fallen lässt, aussetzt, aussteigt. Dabei war sie das längst, ausgestiegen.
Ich weiß nichts von ihr. Nichts von ihren Ängsten, ihren Gedanken, ihren Ideen, ihrer Enttäuschung, ihrer Wut. Ich kann sie ahnen, aber nicht wissen. Sie hat sich mir nicht vermittelt.
Wie oft sie etwas Abfälliges, Abwertendes mir gegenüber hatte, wie spät ich das begriffen habe. Worüber war sie enttäuscht, worauf war sie wütend? Dass ich von Anfang an nicht das war, was sie sich gewünscht hatte. Dass ich eine Fremde war, geblieben bin, bleiben wollte. Dass ich ihr nicht verzeihen konnte, wollte, war es eine Reaktion darauf? Oder war es genau anders herum? Wollte sie die Fremde bleiben? Dass ich in Abgrenzung zu ihr entstanden bin und ihr doch niemals entkommen werde.
Was hätte ich darum gegeben so einen Tagebucheintrag von ihr zu finden.
Wie Judith Hermanns Protagonistin hätte ich das Heft rasch zugeschlagen.
Oder?