Mai 2023 – Marseille en Mai – Elle

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Im Airbnb Apartment fische ich eine französische Elle vom Zeitschriftenstapel. Gleich vorne auf der ersten Seite bleibe ich hängen. Das Editorial der Chefredakteurin beginnt mit einem Zitat aus Ray Bradburys Buch Fahrenheit 451, einem Science-Fiction-Roman, in dem es um Bücherverbrennung geht. Von dort zieht sie den Bogen weiter zur der Verbannung von Büchern in Bibliotheken und Schulen in einigen Bundesstaaten der USA (darunter Toni Robinson, Mark Twain und Art Spiegelman), und endet bei den Änderungen, die in Großbritannien von Verlagen an Büchern von Roald Dahl über Agatha Christie bis Ian Flaming vorgenommen werden, um beispielsweise antisemitische oder dickenfeindliche Sätze zu entfernen oder zu ersetzen. 

Die Autorin bezieht dazu eine klare Haltung: Sie ist entsetzt. Sie sieht die Freiheit des Lesens in Gefahr. Sie zitiert Bret Easton Ellis, und findet wie er, dass es bei Literatur nicht darum geht, sich der eigenen Komfortzone etablierter Moral zu vergewissern, sondern um die Beunruhigung, die sie heraufbeschwören kann. Darin, so die Redakteurin, liegt die subversive Kraft der Literatur und sie spricht sich dafür aus, Leserinnen und Lesern nicht um das Vertrauen und die Möglichkeiten ihres kritischen Geistes zu bringen. Sie plädiert für Kontextualisierung. Also für Fußnoten, Vorbemerkungen und andere Formen der historisch-kulturellen Einordnung. 

Ich bin verblüfft. Ich kann mich nicht erinnern, je in einer deutschen Frauenzeitschrift im Editorial einen Text mit politischem Inhalt gelesen zu haben. Schon gar nicht einen, der sich mitten rein traut, ins Wespennest. Beindruckend, die Franzosen, oder besser: die Französinnen. 

Der argumentative Bogen, den sie spannt, legt ihre Sorge um den umgekehrten Verlauf frei: Mit den Veränderungen in den Büchern fängt es an, mit Bücherverbrennungen hört es auf. Sie sieht also von woke links bis scharf rechts die gleichen Mechanismen am Werk, trotz der unterschiedlichen Motivationen, die beiden zugrunde liegen. Während die linken oder sagen wir besser, identitäts- und repräsentationspolitischen Strömungen mit dem Schutz von fragilen und fortlaufend Diskriminierung ausgesetzten Personen argumentiert, und die permanente Wiederholung von abwertenden Festschreibungen durchbrechen will, argumentiert die autokratische Rechte – ja, womit eigentlich?, mit dem Schutz von Eltern und Kindern vor Büchern, die schlicht als „gefährlich“ eingestuft werden. Was an Autorinnen wie Morrison, Spiegelman und Twain gefährlich ist, bzw. was an ihrer Verbannung für eine rechte politische Klasse so attraktiv ist, kann sich jeder zusammenreimen. 

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Wie immer ist natürlich alles kompliziert. Die Lindgren-Bücher sind viel diskutiert worden und auch mir, die ich die oben wiedergegebene Position bei Erwachsenen-Literatur zu praktisch hundert Prozent teile, leuchtet es nicht ein, warum irgendjemand heute noch in einem Pipi Langstrumpf-Roman das N-Wort lesen sollte. Wobei man sich klarmachen muss, dass Lektorinnen, Übersetzerinnen und Erben ständig Worte, Sätze, Ausdrücke in Büchern verändern, gerade bei Übersetzungen und Neuausgaben ist das ein zentrales Thema. Dennoch finde ich es eine geradezu vertane Chance, wenn man der jungen Leserin, dem Leser eines Pipi-Romans nicht  mit ein paar kindgerechten Worten die vorgenommene Änderung und den Prozess dorthin transparent machen würde: An dieser Stelle stand früher mal ein anderes Wort. Um zu begreifen, dass wir alle historisch zu verstehen sind und im Horizont unserer Zeit denken, dass gute und interessante Bücher nicht automatisch von nur netten oder in allen Lebensbereichen klugen Leuten geschrieben werden, dass wir in einer diskriminierenden Gesellschaft leben, dass Worte Macht haben, und Literatur über all das reflektiert, wäre diese Kontextualisierung hilfreich. 

Erwachsene jedoch, die sollte man nicht für dumm verkaufen. Man darf nicht aufhören, von ihnen (und den Schulen, die sie besucht haben), zu erwarten, dass sie wissen, wie man Literatur liest und dass Texte in einem historischen, kulturellen, biografischen Kontext entstehen und in einem anderen gelesen werden. Wirklich hilflos und gefährlich unterkomplex wird es, wenn Texte schlicht abgescannt werden, auf Z-Wörter, N-Wörter, ohne dass noch jemand versteht, dass sie beispielsweise in einem Figurendialog der erzählten Zeit verwendet werden oder dass die Autorin genau damit Rassismus thematisieren möchte oder dass Antisemitismus sich gerne mal zwischen den Zeilen befindet oder Sexismus in den Inhalten, ohne dass auch nur ein einziges offen diskriminierendes Wort gefallen wäre, das man löschen kann. Und auch die ausgegrenzten Gruppen selbst benutzen ja häufig den ursprünglich abwertenden Begriff, um ihn sich in einer Geste der Selbstermächtigung anzuheften, was in der Sprache einer Figur eine entsprechende Bedeutung haben kann. Die Idee der Empfindlichkeit, der Fragilität der Lesenden, auf die Literatur Rücksicht nehmen muss, ist mir als Motivation für Streichung und Änderung nicht geheuer. Wer schwingt sich auf, zu wissen, was für wen verletzend oder beleidigend (offensive) sein könnte, wer errichtet auf welcher Grundlage den Katalog dafür, der dann abgearbeitet wird? Und wenn wir alle Wörter mit den besten Absichten ausmerzen, bedeutet das nicht, dass es Rassismus, Homophobie, Sexismus usw. usf. nicht gibt. Möglicherweise verstellen wir nur den Blick darauf, tun so, als wär da nichts weiter Schlimmes, wo vorher was verdammt Schlimmes war. Was für eine Rolle schreibt man der Literatur zu, welche Idee von Autorschaft pflegt man? 

Dass es in Frankreich möglich ist, den aktuellen Umgang mit Literatur zu kritisieren und in Beziehung zu setzen mit den Bücherverboten in Bildungseinrichtungen der USA, scheint mir aus der deutschen Perspektive erstaunlich. Hier haben die Rechten den Hass aus den USA auf alles, was „woke“ ist, importiert und unter dem Stichwort Cancel Culture den Diskurs gekapert. Die Antwort von links bis zur bürgerlichen Mitte muss dementsprechend die Verteidigung von beidem sein. Eine andere Antwort kann es nicht geben, eine andere Ecke, eine eigene Haltung wird nicht entwickelt.

Für Olivia de Lamberterie bedeutet Lesen, sich zu konfrontieren. Mit sich, mit der Welt, mit anderen. Mit dem Anderen. Ihren Artikel hat sie mit dem Titel À lire vrai überschrieben. Wenn mein Französisch und DeepL mich nicht täuschen, bedeutet das so viel wie Aufs wahre Lesen oder wahr lesen. In diesem Sinne. Öfter mal zu französischen Frauenzeitschriften greifen.