April 2020 – Corona 29 – V wie verrückt

Ich verabrede mich auf dem Markt mit einem Freund. Ich hab ihn länger nicht gesehen, vor Corona das letzte Mal. Als ich ankomme, sehe ich, dass man am Eingang zum Markt Schlange stehen muss. Als der Freund mich dort entdeckt, läuft er straight auf mich zu ohne stehen zu bleiben und umarmt mich mit den Worten: So, darf ich dich jetzt mal umarmen, das ist ja hier,- Ich, noch in der Umarmung: Äh, nein, eigentlich nicht; er redet weiter, steht dabei dicht neben mir, spricht wie schon zuvor laut, sodass die Umstehenden, sein eigentliches Publikum, ihn hören: Da wird man ja gleich schon wieder angeguckt wie ein Hygieneterrorist, wenn man die Leute umarmt.

Ich bin verblüfft. Niemand den ich kenne, hat sich bisher so benommen. Nein, sage ich, das ist kein Hygieneterrorismus, sondern der erforderliche Mindestabstand und schiebe wie zum Trotz die Maske hoch, die ich heute zum ersten Mal draußen dabei habe, so von wegen Einkaufen und mit Verkäufern reden, da dachte ich, vielleicht fühlt sich das angemessen an. Doch er ist im Schwung, zieht weiter vom Leder: Weißt du eigentlich wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich dich oder du mich jetzt hier ansteckst? Er rechnet es mir vor: Bei eins zu einer Million! Dann beklagt er sich über sein völlig unplanbares Jahr, in dem er nicht wie sonst zweimal Richtung Asien udn diverse Ziele in Europa ansteuern kann. Inzwischen haben wir den Markt geentert, bei einem Kaffee auf die Hand kratzbürsteln wir uns weiter über Sinn und Zweck der Maßnahmen an. Er: völlig übertrieben, niemand kann beweisen, dass die Maßnahmen was nützen, die Leute die grade sterben, wären sowieso gestorben, Ich: völlig angemessen, was ohne die Maßnahmen passiert, können wir doch überall da sehen, wo sie nicht ergriffen wurden, Er: Ich wette am Ende haben wir nicht mehr Tote als sonst, man kann gar nicht beweisen, dass die Leute an Corona gestorben sind, usw., usf.

Später erzähle ich ihm, dass das Autoprojekt abgesagt ist, und man von wegen alternativer Terminplanung grade ja eh nur auf Sicht fahren kann. Ich vergesse, ihm die Anführungszeichen in die Luft zu malen, denke, beim Autothema und wenn man mich ein bisschen kennt, könnte man sich die dazu denken. Er lacht unangenehm, du lässt heute ja auch wirklich kein Klischee aus, sagt er.

Jo, denke ich, nettes Treffen, als ich auf dem Nachhauseweg in der S-Bahn sitze. Ich wurde umarmt ohne gefragt zu werden, der von mir signalisierte Abstand wurde nicht respektiert, ich wurde mit Infos aus der Superchecker-Welt versorgt, von denen alle anderen keine Ahnung haben, bzw. mit der richtigen Interpretation der Infos, die die normale Welt bereit hält, die alle leider nicht richtig zu interpretieren verstehen, ich wurde, während wir auf dem Markt Trüffelöl und Garam Masala gekauft haben – er arbeitet wie immer im Homeoffice bei gutem Gehalt – mit den Belastungen durch die massiven politischen Einschränkungen von demokratischen Grund- und Freiheitsrechten konfrontiert, in diesem Fall seiner Freiheit, eine Reise zu buchen, und zum guten Schluss noch als klischeehaft, also der aktuell grassierenden Mainstream-Dummheit aufsitzend, beleidigt.

Ich finde ihn so unsympathisch wie noch nie.

Später zuhause schreibt er mir. Bedankt sich für das Treffen, das gut getan habe.

Alle haben ihren eigenen inneren und äußeren Prozess mit dem Virus, der nun schon so einige Wochen unter uns weilt und vorhat, noch eine ganze Weile zu bleiben, die einen haben Angst und ziehen sich zurück, die anderen fühlen sich eingesperrt und hauen gegen die Tür, manche tun als wär gar nix, andere bereiten sich auf die Apokalypse vor. Der Virus macht uns alle ein bisschen verrückt.

Da muss man großzügig sein.