Die Nachbarin von gegenüber putzt die Fenster.
Im fancy Mitte-Haus auf der anderen Seite des Hofs hat Papa den Kindern ein Trampolin für die Terrasse gekauft, er haut auf einen nagelneuen Punching-Ball. (Wird er brauchen, die nächsten Wochen ohne Schule und Kita. Gut zur Vorbeugung häuslicher Gewalt). Nochmal schnell shoppen gewesen, bevor die Ausgangsbeschränkungen losgehen. Machen wirs uns halt zuhause schön.
Alles passiert so schnell. „Man kann gar nicht so schnell adaptieren, wie es geschieht“, sagt A. in einer Whatsapp-Nachricht. Gleichzeitig reden alle von Entschleunigung.
Die Zeitungen als stetig tickende Begleiter. Irgendwann stelle ich die Push-Nachrichten aus. Zweimal am Tag muss reichen. (Die pushen nämlich auch die Angst.)
Schräg unter der Fensterputz-Nachbarin, bei der anderen Nachbarin, ist schon Gesichtsbräunungsfolie angesagt. Er schmeißt parallel dazu den Grill an.
Jeden Morgen, ganz früh, gehe ich spazieren. Immer die gleichen zwei, drei Runden, eine Thermoskanne mit Tee oder Kaffee in der Hand. Die Straßen sind leer, alles ist wie ausgestorben, manchmal ist das unheimlich. Dann, wenn ich jemanden sehe. Einen anderen allein. Auf weiter Flur. Später wirds voll auf den Gehwegen, zu voll, man kann sich kaum noch ausweichen. Ich laufe Slalom, auf die Straße, wieder hoch auf den Gehweg, halte an, lasse vorbei. Den Abstand einhalten, den Mindestabstand. Das Wort des Jahres. Nein, des Jahrzehnts.
Überhaupt, das wording.
flatten the curve.
stayathome.
social distancing.
systemrelevant.
Die Leute joggen wie irre. Sie keuchen an einem vorbei, ich sehe die Tröpfchen in Zeitlupe auf mich zufliegen wie kleine Geschosse. Bei den Handy-Sprechern seh ich sie lupenfein auf den Aerosolen sitzen und nach sanftem, feuchtem Wolkenflug auf meinen Wangen landen, von wo aus ich sie dann auf eine Schleimhaut meiner Wahl schmieren kann. Nicht! ins Gesicht! fassen!
In der S-Bahn gehen die Türen jetzt automatisch auf.
Das Wetter wird von Tag zu Tag besser.
Die BVG reduziert den ÖPNV: Niedrigere Taktung, kleinere Busse. Ergebnis: Die Leute stehen dicht gedrängt und kommen zu spät. Beschwerden, es wird nachgebessert: Alte Taktung, große Busse. Immer noch überall ganz schön viel Leute.
Die Stadt stinkt wie eh und je. Ich dachte, es fahren jetzt weniger Autos.
Die Stunde der Virologen, Epidemologen. Robert Koch (Herr Wieler), Christian Drosten (Charite), Johns Hopkins University.
Mindestabstand Mindestabstand Mindestabstand. Handhygiene, Armbeuge. So der Reim, den man sich aufs Virus macht.
Im Internet seh ich einen Clip von einer Frau aus dem Iran. Sie trägt Einmalhandschuhe und reibt sich mit blauer Farbe die Hände ein, als wärs Seife. Das ist toll, man sieht, wo leere Flecken bleiben, Innenfläche, Außenkanten, Fingerspitzen. Zweimal alle meine Entchen oder Happy Birthday singen.
Die Stunde auch der Zwangsneurotiker und Verschwörungstheoretiker.
Überall stehen Kisten vor den Häusern, alle misten aus.
Schutzkleidung und FFPmasken verschwinden in hoher Stückzahl aus Kliniken. C. rechnet vor, klar, wenn du 50.000 klaust und sie bei ebay für 10 Euro das Stück verkaufst… Eine Woche später schon sind sie heiße Ware auf dem Weltmarkt. Bestellte Masken und Schutzkleidung in Millionenzahl gehen unter dubiosen Umständen auf Flughäfen verloren, verschwinden auf dem Transportweg oder haben gar materiell nie existiert. Die deutschen Behörden als Einkäufer auf einem „Wild West Markt“, auf dem immer von links einer kommen und die Lieferung für ein paar Millionen bar auf die Hand abzweigen kann.
In Ungarn wird unterm Corona-Radar mal eben weiter an der Diktatur gebastelt. Hier und überhaupt stellt sich die Frage: Wo ist Europa?
Auch eine UN soll es geben, von der hört man nichts.
Berührung
Auf einem Twitter-Clip sind ein paar junge, Masken tragende Chinesen zu sehen, die demonstrieren, wie sie sich in Zeiten des Virus begrüßen: nicht mit Handschlag, no no, sie stupsen die Innenseiten ihrer Füße aneinander, einmal links, einmal rechts. Ich führe das ein, bei C. und G., die ich noch sehe. Wen siehst du noch?, ist häufig die Frage. Rückzug allerorten. Es gibt Leute, die verkünden das richtig, es gibt Leute, die sind einfach nicht erreichbar, es gibt Leute, die sagen, jaja, lass mal treffen und melden sich nicht mehr.
G. .und ich treffen uns zu Distanziergängen.
C. kommt mich auf dem Balkon besuchen. Wir fädeln uns Tetrismäßig in meine Wohnung ein: rückwärts, vorwärts, jetzt du. Dann: Balkonsitzung im Mindestabstand. Als sie geht, und ich sie nicht in den Arm nehmen kann, werde ich traurig.
Es gibt keine Berührung seit Wochen, seit Monaten. Niemand berührt mich. Seit T. weg ist sowieso nicht, nun nicht mal mehr ein Handschlag, eine Umarmung zu Begrüßung oder Abschied. Das ist nicht gesund, sagt die Wissenschaft, da fehlt Oxytocin.
Digitalisierungsschub
Alles und alle gehen in erstaunlicher Geschwindigkeit online: Kinos, Clubs, Festivals, Konferenzen, Schulen, Arbeitsplätze, sogar die Verwaltung. Überall wird Software ausprobiert, fahrig, hektisch, aber eben doch. Ch. erzählt von einer Unterrichtssoftware in der man schnell alles einpflegen kann, Fotos, Videos, alle anderen Materialien, Miro Board.
zoom ist plötzlich das tool der Stunde. Videokonferenzen – machen wir alle mit zoom, die Aktie schießt in die Höhe. Zwei Wochen später haben die Netz-Tech-Überwachungs-consiousness people das Ding schon wieder als Datensicherheits-Supergau entlarvt. Wer cool ist, zieht um zu jitsi. Mal sehen, wie lange das hält.
Den Pornhub Premium Account gibts jetzt for free.
Ich videochatte mit Freunden, verabrede mich zum Paralleltrinken. Das funktioniert erstaunlich gut.
Die kleinen Läden beginnen zu adaptieren: Außerhausverkauf. Fahrradlieferung vom Buchladen. Alles wird bestellt. Amazon stellt Leute ein.
Meine Nachbarn von schräg gegenüber tanzen auf dem Balkon. Hit me baby one more time.
Jeden Abend schaue ich bei United We Stream vorbei. Wahnsinn, wie schnell die waren. Ich kaufe einen Beutel für 15 Euro, Soli-Beitrag.
Versäumnisse
Überall treten Versäumnisse zu Tage. Warum hat man keinen Vorrat an Schutzkleidung. Der bewacht ist, in einem Hochsicherheitstrakt. Wieso gibt es nicht genug Beatmungsgeräte bzw. Intensivplätze. Wieso ist keiner für die Bedienung der Geräte ausgebildet? Warum fängt man jetzt erst mit Homeoffice an und weiß auf die Schnelle nicht, wie? Wieso hat man die Digitalisierung in den Schulen und Universitäten nicht vorangetrieben. Oder zumindest mal die Schultoiletten renoviert und Seife bereit gestellt? Das rächt sich jetzt.
Es gibt Engpässe bei so grundlegenden Medikamenten wie Antibiotika. „Wir“ sind genau wie bei der Schutzkleidung, abhängig vom „Ausland“. Ausland ist grade China.
stayathome für Obdachlose, wie soll das gehen? Kaum kommt einer „von denen“ auf einen zu, wird abgewunken, ausgewichen, es ist ein schrecklicher Anblick. Als hätten genau die alle den Virus. Aber klar, schnorren im Mindestabstand geht irgendwie schlecht. Oder nur schwer. Nach kürzester Zeit sind sie weg, nicht mehr in der Bahn, nicht mehr auf der Straße. Wo sind sie?
Die Nachrichten aus Spanien sind grauenvoll. In Madrid ist die Lage außer Kontrolle. Leichenhallen, Behelfskliniken, Ausgangssperre. Niemand darf zu sterbenden Angehörigen. Schutzkleidung fehlt. Ich mache mir Sorgen um R. und E., traue mich aber wegen T. nicht, Kontakt aufzunehmen. Tue es dann doch. R. ist krank, aber auf dem Weg der Besserung. E. ist isoliert, sicher furchtbar für sie.
Politik
Zum ersten Mal seit ich denken kann, kommt die Politik zu sich selbst. Zu ihrer eigenen Bestimmung. Experten werden einbestellt, angehört. Zuständige Stellen einbezogen. Entscheidungen werden getroffen. Und umgesetzt. Zum Wohle der Bevölkerung. Besonnen, transparent, schnell.
Plötzlich ist Geld da. Geld von dem nie die Rede war, das es nicht gab. Für nichts und niemanden und unter gar keinen Umständen.
In den ersten Wochen jedenfalls blüht die Politik auf. Spahn (Gesundheit), Söder (Bayern), Laschet (NRW), Merkel natürlich. Michael Müller braucht lange, viel zu lange für meinen Geschmack, da sind Lederer (Kultur), und Kalayci (Gesundheit) viel schneller, kriegt dann aber doch noch einigermaßen die Kurve.
Merkel spricht, die Sache ist ernst. Rede an die Nation. Worte von Mutti. Und Vati in Personalunion. Sorge, Mahnung und Masterplan auf Basis von Vernunft und Augenmaß. Besser kann mans nicht machen. Das war schon immer ihre Stärke, im Reaktiven ist sie am besten, die Politik ja generell. Wenn die Kinder brav sind, jedenfalls, verhängen wir keine Ausgangssperre wie in Italien.
Kann man mit Föderalismus auf eine Pandemie reagieren? Bayern hat höhere Fallzahlen, Berlin mehr Solo-Selbständige, Sachsen bisher keine einzige bekannte Infektion.
Nach ein paar Wochen wird spürbar: Die Mini-präsidenten vergessen nicht, sich zu profilieren, die unruhigen Buben hüpfen auf und ab, vor Mutti und ihr auf der Nase herum.
Fallzahlen, Verdopplungsraten, Todesfälle. Seit neustem: Genesene.
Das Internet macht Stress. Sprache lernen, Yogi werden, witzige Clips drehen, Museen besuchen, rare Filme gucken, Masturbationstechniken verfeinern, Leute, was oll ich denn noch alles machen, ich muss ar-bei-ten!!
Fotos machen, Videos sammeln, Wackel schreiben, ich komme nicht hinterher. Hinter dem Versuch, die Dinge zu bewahren, die Momente festzuhalten. Irgendwann gebe ich auf. Machen sowieso alle, ist die bestdokumentierteste Pandemie der Geschichte.
Am Wochenende ist es kuschelig eng auf Gehwegen und in Parks.
Die Organisation in den Kliniken ist erstaunlich. Trotz aller Probleme. Die Situation stabilisiert sich.
P. schickt jetzt jeden Tag ein Video-Rezept per Statusmeldung.
Klimakatastrophe und Flüchtlingskrise kein Thema mehr. Ah, doch, auf der griechischen Insel Lesbos im Lager Moira befürchtet man eine humanitäre Katastophe wenn der Virus ausbricht.
Europa überholt China bei den Fallzahlen.
Auf dem S-Bahngleis eine Durchsage: Zur Eindämmung des Corona-Virus… Okay, das ist spooky jetzt, wirklich wie im Film. Oder in China.
Ein paar Tage später im Supermarkt das gleiche. Durchsage zwischen Werbebotschaft und Sprudelmusik. Wir von REWE versorgen Sie täglich…
Ich lese einen Artikel über einen Pandemieplan der Regierung, mit erstaunlichen Überschneidungen und komplettem Handlungsdrehbuch von 2006, an das sich jetzt keiner so recht hält. Die andere durchgespielte Katastrophe ist übrigens ein Hochwasser aus dem Mittelgebirge. Dann wissen wir ja, was als nächstes kommt.
Hefe ist nicht zu kriegen, trocken, flüssig, fest, alles ausverkauft. Ich schon wieder: Achso…?
Ich gebe 264 Seiten Serie ab! Was soll ich auch sonst machen, liebe Nachwelt, rumrennen und in Panik schreien? Nudeln mit Klopapier horten, mit Hefe überbacken? Mich bewaffnen? – Das machen die Amerikaner. Die Franzosen angeblich Kondome und Wein, well I dont think so, das hat sich doch jemand ausgedacht…
Begrenzungen
Im Supermarkt jetzt Klebestreifen auf dem Boden. Am Imbiss Tape auf dem Boden davor. Quadrate, Striche. Die Geometrie des urbanen Raums. Einteilen, aufteilen, abgrenzen, begrenzen. Flatterband um die Spielplätze, die Parkbänke.
Bitte treten sie einzeln ein. Nicht mehr als drei Personen gleichzeitig.
Die Verkäuferin hinter Plexiglas. Bitte zahlen sie mit Karte.
Mecklenburg-Vorpommern lässt keine Berliner mehr rein. Grenzkontrolle am anti-viralen Schutzwall. Die finden das geil, da bin ich sicher, unser Land muss sauber bleiben. Ausländer und Berliner raus.
Die Maske, die Maske, die Maskendebatte eskaliert. Ja, nein, eventuell unter bestimmten Umständen. Plötzlich: Mundschutzpflicht beim Einkaufen in Jena. Bayern prescht nach. Näh- und Bastelanleitungen all over the Internetz. Die Maske kommt, mit Warnungen, als Empfehlung, Gebot, Pflicht. Die Asiaten wundern sich schon die ganze Zeit: Wieso haben die Leute in Europa keine Masken auf? Entwicklungsland…
Eine joggende Mama, früh am Morgen, die ihre beiden quasselnden Mädchen, so 6, 8 Jahre alt, vor sich hertraben lässt – damit die Ponys für heute gleich mal ein bisschen Auslauf haben.
Plötzlich neue Stimmen. Ist das nicht alles undemokratisch, autokratisch, kann man einfach so Grund- und Freiheitsrechte aushebeln, den Datenschutz aufgeben fürs RKI?, was passiert hier mal eben schnell, unter der Hand, nur weil es grade mal eben schnell passieren muss?
Die Wirtschaft meldet sich zurück. Wieso die so viel und wir nur so wenig? Was habt ihr euch überlegt? Für ein Leben danach. Denn lange lässt sich das hier nicht mehr durchhalten. Wie sollen wir das durchhalten? Wie soll das alles hier nicht zusammenbrechen?
So langsam kippt die Stimmung. Keiner hat mehr Bock. Der Virus kommt jetzt aus einem Labor in China.
Sogar die Zahlen geraten in Verruf. Verschwimmen, geraten ins Wanken. Wie der Boden unter unseren Füßen, wenn er kein gemeinsamer mehr ist. Die Statistiken sind plötzlich alle fragwürdig, müssen oder können anders betrachtet werden. Das macht mir zu schaffen.
Demonstrationen im Mindestabstand gegen die Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Eine Mischung aus Wir sind das Volk-Rufern, Impfgegnerinnen, Verschwörungstheoretikern und angeschlagenen Mittelständlern findet sich zur Empörung gegen den Staat zusammen.
Die Öffnung. Wann wird geöffnet, wie wird geöffnet, wer wird geöffnet, ab wie viel Quadratmetern und unter welchen Voraussetzungen. Öffnungsdiskussionsorgien, sagt die Kanzlerin genervt.
Trump stellt die Zahlungen an die WHO ein. Derweil sterben die Leut und werden in Massengräbern beerdigt. New York ist eine Geisterstadt. Die Leute gehen vermummt durch die Straßen. Die Arbeitslosenzahlen schießen durch die Decke.
Bilder aus Neu Delhi. Wanderarbeiter in riesigen Migrationsströmen, auf dem Weg in ihre Heimatorte, tausende Kilometer gehen sie zu Fuß, dicht an dicht, der Bus- und Bahnverkehr wurde von einem Tag auf den andern eingestellt. Vorher versuchen sie noch massenhaft an der Busstation eine Mitfahrt zu bekommen. So agiert auch die Türkei: Schnell mal ansagen, dass jetzt dicht gemacht wird und Massenaufläufe und -schlägereien vor Supermärkten produzieren
In der Zwischenzeit zeigt die Weltkarte kaum mehr einen Fleck ohne Virus.
In Wales laufen Schafe durch die Fußgängerzone. Endlich mal in Ruhe shoppen, jetzt, wo die nervigen Menschen weg sind. Die Rabatten schmecken auch nicht schlecht. Tiger auf der Straße in Indien, Seelöwen irgendwo anders.
Alles. geht. so. schnell.