September 2018 – Klamottenbiografie

Wenn man so alt ist wie ich, kann man schon auf eine beträchtliche Klamottenbiografie zurück schauen. Ab und an passiert es, da sitze ich irgendwo, sehe irgendwas oder irgendwen, und da fällt mir plötzlich siedend heiß irgendein Kleidungsstück ein, das ich früher mal getragen habe. Der graugrüne Mantel aus Cord im Trenchcoat-Stil. Die kurze kastenförmige Lederjacke ohne Bund. Das orange-weiß karierte (!), taillierte Wolljackett. Die schwarze Vintage-Anzugshose, die so gut saß. Das grüne, eng anliegende Samtkleid, bei dem nie klar war, ob die Schleife nun vorne oder hinten sitzt.

All diese Verflossenen lösen die unterschiedlichsten Gefühle aus: Wehmut, Belustigung, Kopfschütteln, Bedauern. Diese Jacke hab ich echt geliebt, sage ich zum Beispiel. Oder: Warum zur Hölle hab ich den Pulli weggeschmissen? Oder: Nicht zu fassen, wie oft ich diesen Mantel getragen habe. Oder: Warum hat mir keiner gesagt, dass diese Jeans ein echter Keeper ist?

Diese ganzen Kleidungsstücke haben mich in einer bestimmten Phase meines Lebens begleitet. Manche von ihnen habe ich nur zwei- dreimal angehabt, sie dann im Schrank gelassen, Ladenhüter draus gemacht, mit anderen war ich praktisch Tag und Nacht zusammen. Mit ein paar von ihnen sieht man mich auf Fotos posieren. Einige von ihnen waren geradezu charakteristisch für mich, jeder kannte mich darin, sie haben mir eine Form gegeben, haben mich geprägt. Sie haben nach mir gerochen und ich nach ihnen, sie standen mir, sie haben mir gepasst. Andere nicht. Andere waren zu groß, zu lang, oder das, was man unvorteilhaft nennt, und ich konnte es nicht sehen. Aber alle, absolut alle, habe ich eines Tages weggeschmissen. Ich bin nämlich, das muss man sagen, ein Wegschmeißer. Ein manchmal Zu-früh-Wegschmeißer, ein Radikal-Wegschmeißer, ein Brutal-Wegschmeißer. Ein Wegschmeißer ohne Rücksicht auf Verluste. Mitleidslos, undankbar, mit einer plötzlichen Gleichgültigkeit, den vormals geliebten Kleidern gegenüber, die schon manchen erstaunt hat. Ab in die Mülltüte, in den Container damit. Aus. Vorbei. Ich mag es nicht, wenn die Dinge in meiner Umgebung sich anhäufen, wenn sie anfangen, mir zu viel werden, mir auf die Pelle zu rücken, mir den Blick verstellen. Ich mag es auch nicht, wenn sie mir Arbeit machen, wenn ich sie ausbessern, zur Reinigung bringen, bügeln muss. Wenn sie fusseln, löchrig werden, speckig. Aber hinterher ist der Jammer manchmal groß. Noch Jahre später fällt mir dann plötzlich ein, wie schön Mantel, Schuhe, Kleid waren. Ich erinnere mich an Stoff, Farbe, Schnitt, und denke daran, wie es war als ich sie zum ersten Mal im Laden gesehen habe.

Doch die richtig schlimmen Verluste sind die, die man erleidet, wenn man Klamotten verliert, an denen man hängt. Eine Anzugsjacke im Nadelstreifen-Blau mit eingenähtem Kapuzenpulli: Aus dem Fahrradkorb gefallen. Ein Vintage-Pyjama: Im Nachtzug nach Wien liegen gelassen. Der schönste Pulli der Welt: Auf der Toilette vom Campingplatz vergessen. Am Schlimmsten aber, und das geht weit zurück in meine Kindheit: Ein Rock, den ich geliebt habe, den meine böse Mutter einfach hinter meinem Rücken meiner Cousine geschenkt hat.