September 2017 – Die Wahl

Einen Moment lang fühle ich mich erhaben. Ich komme aus der Grundschule, in die man mich disponiert hat und habe an etwas teilgenommen. An einem größeren Ganzen. Ich wurde wahrgenommen. Man hat mich gefragt. Ich hab den Termin eingebaut, in meinen Tag, drumrumgewickelt die anderen Sachen. Jetzt weiß ich, meine Stimme wird gezählt.

Ich verfolge den ganzen Abend die Ergebnisse. Alle haben sich über den langweiligen Wahlkampf beklagt. Jetzt ist nichts mehr langweilig. SPD abgestiegen, CDU abgestiegen, Seehofer raus aus der CSU?, Frauke Petry raus aus der AfD (Drama Queen, neue Partei?!) Mit Jamaika hab ich gerechnet. Mit der Ansage der SPD nicht mehr regieren zu wollen, nicht. Bisschen Respekt. Ich dachte, die schleimen sich ein und Merkel will eh lieber mit den anderen. AfD – Jetzt ist es Realität. Sichtbare, verhandelbare, mehrheitenfähige Tatsache. Der Osten, die Männer, Enttäuschungswähler – alle vier Jahre bin ich verliebt in Jörg Schönenborn, niemand präsentiert Statistiken so herrlich öffentlich rechtlich wie er. Und immer mit der neusten No-Touch-Screen-Technik. Wie haben eigentlich die Deutschtürken gewählt? Finde ich nicht raus, auch die nächsten Tage nicht. Wär doch interessant (aber das Profiling ist vielleicht problematisch).

Ich treffe mich mit H., wir beide begierig darauf, die Sache zu diskutieren, AfD-Ursachenforschung zu betreiben. H., in der DDR aufgewachsen, den Mauerfall als Teenager erlebt, ist mein persönlicher Ost-Experte: Also sag doch mal. Warum? (der Arme). Der große Bruch in den Biografien? – Wir haben die nächste Generation. Die so gar nicht blühenden Landschaften? – Stimmt doch so nicht mehr. (Den Leuten in Neukölln geht’s schlechter). Flüchtlinge in kaum integrierbarer Zahl? – Keine Flüchtlinge in den AfD-Ländern weit und breit. Männer, die sich abgehängt fühlen, an verlotterten Orten rumsitzen und deshalb saufen? (Geht den Leuten in Neukölln genauso). Die Kolonisierung durch den Westen und die daraus resultierende Kränkung? Nachvollziehbar. Seh ich als Problem. Andererseits. Sie wollten ihn doch unbedingt, ihren Bananen-Kapitalismus. Haben sie doch vorher alle im Fernsehen gesehen, was das bedeutet. Haben sie in der Schule nicht aufgepasst, haben sie ihrer antifaschistischen DDR nicht zugehört, wie es hier zugeht, haben sie nichts kapiert? Wieso überholen ausgerechnet die rechts? Ich bin wütend. Seit Jahrzehnten Solidaritätsbeitrag und das ist der Dank?

Was war eigentlich mit Ausländern in der DDR? Hatten die keine? Da gab es doch auch human traffic, Austausch mit den sozialistischen Bruderstaaten, Kuba, Vietnam. Ich erzähle H. dass ich vor zwei Jahren an der Kasse bei Galeria Kaufhof stand, und der Kassierer auf die Frage der Kundin vor mir, wo man hier irgendwo Blumen kaufen kann, sagte: Unten am Alex ist ein Fidschi. Ein Fidschi. Mir ist der Mund offenstehen geblieben. Er fand nichts dabei. Er hat es nicht böse gemeint. Es war für ihn kein Schimpfwort, es war das normale Wort für Vietnamese in der DDR. So wie für meinen Vater das Wort Neger nie ein Schimpfwort war, wieso denn auch, er fand die doch immer alle ganz sympathisch und toll und war voll auf ihrer Seite.

H. erzählt eine interessante Geschichte. Direkt neben ihnen, im Haus nebenan, haben Vietnamesen gewohnt. Sie kamen, um in der DDR eine dreijährige Ausbildung zu machen. Danach gingen sie zurück. Sie bekamen alle – ein großes Thema für H.s ältere Brüder – eine Simson Maschine gestellt. Sowas war normalerweise gar nicht zu bekommen. Gehörte anscheinend zum sozialistischen-Bruder-Paket. H. war noch klein, aber seine Brüder waren neidisch.

Zwischen ihnen, also H., seinen älteren Brüdern und den Vietnamessen gab es keinen Kontakt. Nie. Obwohl sie direkt nebendran waren. Müssen die nicht Deutsch gesprochen haben, wenn sie in der DDR eine Ausbildung gemacht haben? H. weiß es nicht. Aber die Vietnamesen wollten den Kontakt vielleicht auch nicht so, sie wollten unter sich bleiben, in dieser temporären Internatssituation, in die man sie gebracht hatte. Ausbildung machen und ab nach Hause. Aber wer weiß das schon, hat ja keiner mit ihnen geredet.

Am Ende ihres Aufenthalts bauten sie riesige Kisten aus Holz. Sie hämmerten und sägten und palaverten vor der Haustür herum, ein ziemliches Spektakel jedes Mal. In die Kiste kam die Simson. Damit sie sie mitnehmen konnten, nach Hause, auf dem großen Schiff.

Ein Filmbild, das.