Dezember 2016 – Breitscheidplatz

1 Ich bekomme es spät mit, und reagiere dann ziemlich abgebrüht: Wir haben alle gewusst, dass es passieren würde. Jetzt ist es da. Es ist nicht angenehm, das zu spüren. Auch alle anderen scheinen mir eher unterkühlt. Kein großes Thema, bei niemand. Liegt es daran, dass es am Breitscheidplatz war und nicht in Neukölln im Ausgehviertel oder im Prenzlauer Berg an der Eberswalder Straße. ist der Breitscheidplatz  so fern wie Istanbul. Kann doch nicht sein. Ich bin da, geh da, hätte da aus bestimmten Gründen sein können. Doch Paris ist mir weitaus näher gegangen. Ist es das jetzt? Einfach eine neue Todesursache, mit der man lebt, neben Unfall, Krankheit, jetzt auch der Terroranschlag? Eine Angst, die mich auf belebten Plätzen, in Ubahnen, Shopping Malls, Clubs, Regionalzügen überfällt, von ihnen fernhält. Ein Risiko, das ich eingehen kann oder auch nicht, wie Autofahren, Fahrradfahren, Rauchen, auf eine Leiter klettern? Ich muss an Israel denken. (Ja, ich denke nicht an Afghanistan, an Syrien, typisch.)  Für die ist das doch noch alles pipifax. Ändert sich ein Leben, wenn es jederzeit von einer Bombe bedroht ist?

2 Am nächsten Tag sitze ich in der Ubahn und gucke Jungs an, Jungs wie Amri. Nett sehen sie aus. NORMAL. Wie ihn gibts Tausende. Kopfhörer im Ohr, Handygedaddel, manche still, bloß nicht auffallen, ander unangenehm verdruckst, von unten hoch, wieder andere aufgeweckt, laut, frech. Meistens zu zweit oder dritt, manchmal allein. Dann verloren. Ich bin misstrauisch, hab Angst vor ihnen, bin wütend auf sie, versteh sie nicht, bekomme Sozialpädagoginnen-Instinkte. Auch das ist alles unangenehm zu merken. Auch das ist nicht neu.

3 Ein paar Tage später sehe ich ein Foto in der Zeitung. Eine endlos lange Schlange in einem Belgrader Flüchtlingslager: Anstehen für eine Mahlzeit, bei 2 Grad Minus. Auf dem Foto sind nur junge Männer. Ausgebremste, abgehängte junge Männer – die doch das Gefühl haben müssen, im richtigen Alter zu sein, um richtig LOSZULEGEN, die das Gefühl haben müssen, jetzt DRAN zu sein. Deswegen sind sie doch losgezogen!  Stattdessen stehen sie in der Kälte um Essen an, und warten aufs nächste Nichts. Können nicht vor, nicht zurück. Stehen in dieser Schlange, und wenn sie vorne angekommen sind, können sie sich gleich hinten wieder einreihen. In irgendeine andere Schlange. Die Welt verschwendet ihre Jugend. Der Kapitalismus frisst seine Kinder. Und von den jungen Frauen war hier noch nicht mal die Rede.

4 Wieder ein paar Tage später. Ich schnappe irgendwo ein paar Zeilen Amris aus einem Video auf: Wir kommen zu euch, um euch zu schlachten, ihr Schweine. Was soll das sein, frage ich mich, was ist das für ein diffuser Schwachsinn? Wenn man schon terrorisiert wird, dann will man doch wenigstens wissen, warum. Diese Jungs wollen ja nicht mal was oder wissen nicht was sie wollen sollen, die können, wenn’s hoch kommt, jemandem Treue schwören, der den Eindruck macht, er wisse es. Da fallen ja nicht mal mehr Stichworte wie ihr Ungläubigen oder Amerika hat uns den Krieg gebracht oder sowas. Ist das überhaupt Terrorismus? Adeln diese Jungs einfach nur ihren Amoklauf mit einer diffusen Religiosität, einem unbestimmten Dagegensein, einem Gegen- das- Klein- sein, dumme Jungs, keine Generation 9/11 mit Abitur mehr, kleine Wichtigtuer, die ihrem beschissenen, gerne schon etwas kleinkriminellem Leben und ihrem bescheuerten Verbrechen, das sie normalerweise an der High School verübt hätten, eine höhere Bedeutung verleihen wollen. „Ihr Schweine“. Vielleicht auch einfach nur die nächste Stufe erreicht, wozu noch systemische Zusammenhänge erläutern, Überzeugungen kundtun, einfach alles Abschaum, Tiere, Ungeziefer, allgemeiner Vernichtungswille. Die Sache mit den Jungfrauen scheint jedenfalls auch nicht mehr zu ziehen, falls das nicht sowieso schon immer westliche Propaganda war, damit sind die nicht mehr zu locken, die Selbsttötung scheint aus der Mode. Da macht der heilige Krieger lieber mit seiner coolen Knarre die Biege bis nach Italien und lässt sich dort von Rechts wegen erschießen. So dass ich mich dann an Weihnachten freuen soll, dass einer tot ist. So weit kommt’s noch.