August 2016 – Urban

C. ruft mich an:

J., angereist aus Anlass von Cs. Geburtstagsfeier, angereist nach sehr langer Zeit mal wieder, angereist aus einem früheren Leben, in dem wir drei viel miteinander zu tun hatten, hat ihr eine sms gschrieben: Sie liegt im Urbankrankenhaus mit Herzinfarkt. Ich lasse alles stehen und liegen und fahre hin.

Auf dem Weg dorthin versuche ich sie zu erreichen: Anruf, sms. Keine Antwort. Ich bekomme Angst. Was wenn ich zu spät komme, was, wenn sie stirbt, allein in dieser fremden Stadt, wie kann ich ihren Freund erreichen, der inzwischen ihr Mann ist, und von dem ich nicht mal weiß, wie er mit Nachnamen heißt, was für Schmerzen hat sie gehabt, was erlebt man, wenn man einen Infarkt hat, was bedeutet das für die Zukunft, warum habe ich keinen Kontakt mehr zu ihr, wenigstens lose, eine Gratulation zum Geburtstag, da bricht man sich doch keinen Zacken aus der Krone, bei allen Animositäten, die es zwischen uns auch gegeben hat. Sie ist 47 Jahre alt, das geht doch nicht. Das geht gar nicht.

Ich laufe aufs Urban zu. Da wandeln sie herum, die Patienten (die ja immer auch Wartende sind, auf Besserung, den weiteren Verlauf, die nächste Untersuchung, die Erlösung, auf was der Arzt sagt) oder sitzen in ihren Rollstühlen, in ihre Hemdchen gesteckt, die Beine ab, die Haare dünn, die Gesichter bleich, Beuteltiere, die ihren Urin, ihre nässenden Flüssigkeiten, ihre tropfenden Medikamente an Stangen, auf Schößen, an Haltevorrichtungen mit sich herumtragen wie Verlängerungen ihrer selbst. Die, begleitet von Freunden oder Söhnen oder Cousinen oder allein die paar Schritte ans Kanalufer gehen, aufs Wasser schauen, auf dem Bänkchen in der Sonne sitzen, in ihr Handy reden, auf Schwäne und gesunde Menschen gucken und unbekümmert aussehen und doch so bekümmert sein müssen, man sieht ja nie rein, in die Menschen. Die sich ein bisschen gute Zeit abtrotzen, ein Momentchen haben hier, bei dem schönen Wetter, denn um den geht es doch, um das Momentchen, Leben, Trost, Normalität, mitten zwischen den Schmerzen, dem Tod, seinem Wahnsinn.

Sie liegt auf der Intensivstation, sagt man mir an der Rezeption. Das macht die Angst nicht kleiner. Ich sehe Schläuche, bleiche Haut, piepsende Geräte. „Da dürfen Se erst ab drei hin“. Das sind noch anderthalb Stunden. Ich eile herum, kaufe Blödsinn ein, den ich eh noch einkaufen muss, und überlege, was ich ihr mitbringen könnte. Blumen, Zeitschriften, Schokolade, darf man Süßes essen nach einem Herzinfarkt, was wenn ich da stehe, mit meinen Blumen und dem ganzen Scheiß und sie ist gestorben, sind Blumen auf Intensivstationen überhaupt willkommen, herrscht da nicht allerhöchste Hygienealarmstufe? Ich entscheide mich für eine Sonnenblume, die ich leicht kürzen lasse.

Punkt 15 Uhr betrete ich die Klinik erneut, suche mir meinen Weg auf die Station, fasziniert wie immer vom System Krankenhaus als atmendem, geradezu städtischem Organismus wie aus einem Science Fiction Film.

Auf der Station muss ich klingeln, um eingelassen zu werden („Schleuse“). Als ich den langen Gang hinuntergehe (Linoleum), schiebt sich ein paar Meter vor mir von rechts ein Bett aus dem Quergang, darin ein frisch Operierter, schwer krank, gerade so noch am Leben, gleitet wie ein Geisterschiff vor mir nach links, gelenkt von einem ungerührten Gondelfahrer im Kittel. Weg ist es, das Geisterbett, verschwunden im Nebel. Ich muss noch ein paar Gänge weiter links rechts.

Ich nutze jede Gelegenheit, mir die Hände zu desinfizieren.

Ich finde J. im hinteren Teil eines Zweibettzimmers, schlafend. Sie wacht auf, als ich mich neben sie setze. Sie ist da, wach, freut sich, umarmt mich, wirkt nur leicht angeschlagen, ich nehme für einen Moment ihre Hand. Sie erzählt, was passiert ist. Seit Monaten Schmerzen in der linken Schulter, Brust. Dachte, es ist was Muskuläres. (Sie macht einen Knochenjob.) Keine Zeit, kein Geld (Freiberufler, vorübergehend keine Krankenversicherung), sich drum zu kümmern. Gestern im Auto (allein) von München nach B, schon während der Fahrt irgendwie schlimmer (und wenn sie ihn im Auto gehabt hätte, den Infarkt). Abends dann: ein paar Schlucke Wein beim Übernachtungsfreund, nachts dann: Notarzt.

Sie ärgert sich, es waren wirklich nur ein paar Schlucke, nicht, wie die Sanis (4 Schränke, ich sehe ein Foto wie sie vor ihr stehen, J. gestikulierend auf einem Sofa), ihr was unterstellen wollten, Alkoholismus. Alle sehr schnell, kompetent, nett. Heute Morgen haben Sie ihr einen Herzkatheter gelegt (Kanülen in Handgelenk, Ellbogen), sie konnte zugucken, auf dem Monitor, wie sie sich durch ihren Arm bis in ihr Herz vorgetastet, und ein Stent gesetzt haben. Jetzt geht es ihr wieder gut, sie fühlt sich wirklich ganz gut.

Der Pfleger, mit der schnorchelnden frisch operierten Halbleiche hinterm Vorhang beschäftigt, hört jedes Wort, das wir sprechen, meint, es ihr sagen zu müssen, nachdem er mir eine Vase für die Sonnenblume gebracht hat: Sie rauchen, hab ich gehört? Sie wissen, dass es da einen Zusammenhang gib. J. weiß es. Es ist nicht so, dass ihr der Gedanke nicht auch schon gekommen ist. Sie macht ne Kotzgeste als der Typ wieder weg ist.

Sie raucht, seit ich sie kenne. Ich kenne sie seit dreißig Jahren. Sie hat ihre Morgenkippe im Frühstücksei ausgedrückt, in der Küche unserer WG, ich hab mit ihr zusammen gewohnt in meiner ersten Alleine-Wohnung, mit 18. Sie war wichtig für mich. Sie war immer stark, hart im Nehmen und Austeilen, zynisches Weltverhältnis, abgebrüht, ein Brocken, und sehr lieb. Die beiden Salz- und Pfeffer-Schweine aus Holz, eins dicker und größer, das andere schmaler und kleiner, die ich heute noch habe, sind von ihr, aus dieser Zeit. Sie ist mir fremd und trotzdem nah. Ich kenne ihre Haare, ihre Bewegungen, ihren Körper, der über die Jahre schlanker geworden ist, dem sie Gewicht abgetrotzt hat, ich sehe ihre Haut, ihre Nägel, wie sie gestikuliert, sich wehrt, gegen die latenten empörenden Vorwürfe die man ihr macht. Was sieht sie, wenn sie mich anschaut? Sie ist jetzt mit F. verheiratet, sie zeigt mir Bilder vom Häuschen, das sie umgebaut haben, ich freue mich sehr, alles sieht gut aus, schön, nach ihr, ihr selbst, angekommen, glücklich, stabil, alles.

Das ist mir zu früh. Mir ist das alles zu früh. Ich dachte, ich muss erst in zwanzig Jahren zu jemand ins Krankenhaus fahren mit Herzinfarkt. Ich mag diese Vorboten nicht, diese Vögel, die vorbeifliegen, die sich eines Tage einnisten werden, in unsere Leben, ihre Schnäbel in uns bohren werden, nicht mehr weggehen, sich niederlassen werden, um zu bleiben bis zum Schluss.

Als ich im Aufzug wieder runterfahre, steigt ein Arzt ein, weißer Kittel, Gesundheitsschuhe, sonore Stimme. Er grüßt nickend, drückt den Knopf, das Handy am Ohr. Ja, Dr. Meier hier, ich rufe an nochmal wegen dem Patienten mit den Hodenprothesen.

Herrgottnochmal, Leute, Ärzte, Schwestern, Pfleger, Linoleumbodenwischer, wie könnt ihr da nur arbeiten? Wie könnt ihr das nur alles aushalten, diese schrecklichen, schrecklichen Dinge, wie könnt ihr darüber reden als wäre das nichts, als wäre es normal, ein Sachverhalt, kein magenzerrender, angstmachender Supergau. Diese ständige Bedrohung, diesen Tod, der überall lauert, das Leiden, das so präsent ist in den Krankenakten, als wäre es die Regel und nicht die Ausnahme. Ich meine, ich verstehe das Prinzip, natürlich, das pragmatische Angehen, aber ich verstehe nicht, wie man so leben kann. Was würde ich drum geben, eine Krankenschwester zu sein, so ein Typus zu sein, der seine festen Arbeitszeiten hat, der seinen Job gut macht, den Leuten das Essen reicht, ihnen den Moment erleichtert, mit einem aufgeschüttelten Kissen, der die Notwendigkeit einer Blutabnahme oder einer Tablettengabe einsieht, nach vorne schaut, denn man kann hier auch gesund werden, denkst du denn daran gar nicht, nein., und am Ende der anstrengenden Schicht nach Hause geht, und sich freut, dass dort alles seinen Gang geht.

Zwei Tage später wird J entlassen. Sie taucht auf dem Geburtstagsfest auf wie geplant. Sitzt ihr der Schreck in den Knochen, in den Gliedern, im Herzen? Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sehen. Macht sie weiter wie bisher, ist es nicht plötzlich das größte Glück, weiterzumachen wie bisher oder ist es Zeit etwas zu ändern und das ist das Glück? Was macht man mit so einer Erfahrung?

Ich weiß es nicht.

Ich bin einfach nur unendlich froh, dass ich da war.