Mai 2024 – Japan im Mai – Water Lilies

Man bittet uns, die Schuhe auszuziehen. Es liegen Pantoffeln bereit, ich nenne sie mal so. Weiches Leder, schmale Sohle, vorne eine rundliche Haube. Sogar die Hausschuhe sind hier edel, sie passen zum Boden, auch farblich (helles Beige). Auf einer langen Bank, die mich an den Turnunterricht erinnert, sitzen wir neben anderen An- und Ausziehern. 

(Man lernt ja auch immer was über andere Kulturen auf Reisen, weil einem die fellow tourists auf Schritt und Tritt begegnen, die gleichen fragenden Blicke in ihren Gesichtern, die gleiche schäfchenartige Bereitschaft, sich lenken und mit den Regeln vor Ort konfrontieren zu lassen, in ihrem Touri-Sein dennoch kulturell wiederum sehr unterschiedlich. Die Asian tourists voll gewöhnt an die Schuhsache, wir Europeans eher immer so, echt jetzt, schon wieder der Hassel? Unangenehm, die Sneakers auszuziehen, die dampfen könnten, unangenehm, sich der Welt in Socken zu präsentieren, entmachtet fühlt man sich.)   

Dann dürfen wir rein. Ich weiß gar nicht „wo rein“, keine Ahnung, was genau mich erwartet, bis hierher war es anstrengend, ein Hin und Her zwischen zwei Kunsthäusern, Chichu Museum, Benesse Art, zurück zu Chichu, weil unser Plan, in einem der Gebäude zu frühstücken, nicht aufgegangen ist. Ich habe den Überblick verloren. Ich gehe also mit meinen schlecht sitzenden Pantoffeln in Richtung der jungen Frau, die, mit diskretem Blick kontrolliert, ob wir die Pantoffeln tragen und mit freundlich leitender Geste und angedeuteter Verbeugung auf den vor uns liegenden Raum verweist. Eine Geste, die ich inzwischen aus anderen touristischen Situationen gut kenne. Ich wende mich dem offen vor mir liegenden Raum zu – und für einen Moment stockt mir der Atem. Ich höre mich irgendetwas Absurdes sagen, wie „Die haben hier die Seerosen“, weil ich so verblüfft und erfasst bin vom Anblick von Monets Bild (Water Lily Pond) an der hinteren, mir gegenüberliegenden Seite des Raums. Ich sehe jetzt, dass der Raum sich in einen vorderen und einen hinteren unterteilt. Die Öffnung des hinteren Raums, das Gebäude selbst also, gibt den Seerosen von hier aus betrachtet, einen Rahmen, betont ihr Cinemascope-Format (2mal6 Meter). 

Ich gehe auf die Seerosen zu, nähere mich ihnen. Alles um mich herum ist weiß, ein weißes Meer aus Boden, Wänden und Decke, alles streichelt mit seiner hellen, seidigen Wärme meinen Blick. Ich gehe auf die Seerosen zu, komme ihnen näher. In all dem Weiß sieht das Bild aus als würde es schweben, sein Blau noch blauer. 

Der Boden über den ich gehe, besteht aus unendlich vielen kleinen, weißen Kacheln mit schmalen, feinen grauen oder schwarzen Schlieren darin. Marmor. Später lese ich in den kleinen Katalog des Museums, dass er aus Italien importiert wurde, aus der Carrara Region, aus der Michelangelo seinen Marmor hat liefern lassen. Kein Wunder also, dass wir hier nur mit Hausschuhen reindürfen. Die Ecken der Kacheln sind leicht abgerundet, ich folge meinem Impuls, beuge mich hinunter und berühre sie. Sie sind weich, sehr weich. 

Ich nehme (wer hat mir beigebracht, das zu tun, mein Vater) unterschiedliche Abstände und Perspektiven aufs Bild ein. Man darf hier nicht fotografieren, ich versuche mein Gedächtnis zu benutzen wie einen Fotoapparat, natürlich wird das nichts nützen und es schmerzt mich, gleichzeitig bin ich froh, dass ich nicht fotografieren darf, ich würde etwas anderes erleben. 

Als ich an die Decke schaue, wird mir klar, dass der Raum mit einer Art transparentem Plexiglas bedeckt zum Himmel offen ist. Das Licht, das auf Monets Seerosenteich fällt, ist natürliches Licht. Wie mag er aussehen, sich verändern, wenn der Himmel in Naoshima mit dunklen Wolken bedeckt ist oder die Sonne bei klarem Himmel in der Mittagszeit steil in den Raum fällt? Tadao Andos architektonische Entscheidung fügt dem Bild – und den zwei weiteren Seerosen-Gemälden, die in diesem Raum hängen – den Außenraum hinzu. Er verändert die Bilder je nach Wetterlage, wie das Wetter es eben tut, wenn wir an einem Teich stehen. Mit dem Weiß der Wände lassen sich Häuser in mediterranen Regionen assoziieren, die Kacheln an einen Pool denken, mit dem sich das Blau des großen Bildes nüchterner verbindet, dem Blick darauf etwas Kühles verleiht.  

Was mich berührt: An vielen Stellen kommt mir das Bild schattig und unklar vor, als habe jemand dort Klarheit, Deutlichkeit gesucht, jedoch lediglich diese flirrende Diesigkeit gefunden und sie dann auch abgebildet. Vielleicht sind es nur die Weiden, die sich in der Abendsonne auf dem Teich spiegeln, aber mir kommt Monets Augenkrankheit in den Sinn, die hier vielleicht schon eine Rolle gespielt hat, so sehr bildet sich eine Dynamik des Gegenhaltens, des dringlichen Festhaltens im Bild ab. Plötzlich erzählt das Bild auch davon.